Schule als polis bei Hartmut von Hentig

Anregung zu einer für heutige Kinder und Jugendliche angemessenen Pädagogik

 

Hartmut von Hentig hat keine Alternativschule gegründet, er hat auch keine in sich geschlossene Lehre vorgelegt. Aber er hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten die Diskussionen zu Bildung s- und Schulreform und zu einer für heutige Kinder und Jugendliche angemessenen Pädagogik angeregt und beeinflusst.

von Franz Tutzer

 

Wenn Hartmut von Hentig in den vielen Jahrzehnten seines Wirkens versucht hat, Schule und Bildung neu und anders zu denken, weil die Gesellschaft sich verändert hat und weil die Kinder und Jugendlichen anders geworden sind, dann tut er dies nicht abgehoben im akademischen Elfenbeinturm, sondern geerdet in eigener Erfahrung und eigener Praxis. „Will ich meine Pädagogik erklären, muss ich mich erklären“, schrieb er bereits 1983 in „Gewöhnung ans Licht – Gewöhnung ans Dunkel. Versuch einer pädagogischen Autobio-grafie“ (Aufgeräumte Erfahrung, München 1983, S. 69).

Inzwischen sind seine Lebenserinnerungen in zwei umfangreichen Bänden im Hanser-Verlag unter dem Titel „Mein Leben – bedacht und bejaht“ erschienen. Sie helfen, die Pädagogik Hartmut von Hentigs in ihrer Vielschichtigkeit und Aktualität aus einer biografischen Perspektive heraus aufzuschließen und daraus Orientierung zu gewinnen.

 

Vielfältige Schulerfahrungen

Hartmut von Hentig wurde 1925 in Posen geboren, sein Vater war Diplomat im auswärtigen Dienst. Dies brachte mit sich, dass von Hentig in verschiedenen Ländern und Kontinenten aufwuchs und verschiedene Schulen mit ihren jeweiligen Besonderheiten, Stärken und Schwächen besuchte. In seiner pädagogischen Autobiografie findet sich die Notiz: „In ihrer Summe haben mir die Schulen, die ich besucht habe, das institutionalisierte Lernen bedeutend gemacht; sie haben in ihrer Vielfalt, ja Gegensätzlichkeit, die Vor-stellung nicht aufkommen lassen, es gebe nur einen Weg; sie haben sich nie gegenüber ihrer und meiner Umwelt verabsolutiert. Wenn ich je Lehrer werden wollte: etwas Unwürdiges und Unwichtiges würde ich damit nicht wählen.“ (Gewöhnung ans Licht – Gewöhnung ans Dunkel, S. 84)

In den Lebenserinnerungen kommen noch andere Erfahrungen zur Sprache, die sein pädagogisches Denken und Handeln geprägt haben: die fordernde und fördernde Haltung seines Vaters, der Umgang mit seinen Geschwistern, die Zeit des Nationalsozialismus und die Erfahrungen im Krieg. Durch einen Zufall bekommt er die Möglichkeit, Griechisch und Latein in Amerika zu studieren. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wird er zunächst Lehrer für alte Sprachen im Landerziehungsheim Birklehof und später in Tübingen. Er übt diesen Beruf mit Begeisterung aus, gleichzeitig publiziert er zu Fragen der Didaktik, Schulreform und Bildung spolitik. Seine kritischen Stellungnahmen erregen bald Aufsehen. 1963 wird er als Professor für Pädagogik an die Universität Göttingen berufen, obwohl er nie Pädagogik studiert hat und auch nicht habilitiert war. 1968 wechselt er an die Universität Bielefeld, allerdings nicht ohne eine Bedingung zu stellen: Er verlangt die Einrichtung zweier Versuchsschulen, der Laborschule Bielefeld und des Oberstufen-kollegs. Im Spannungsfeld zwischen Lehre, Forschung und Praxis entwickelte von Hentig seine eigene Pädagogik.

Hentig als aus seinen Werken und beantwortete Fragen aus dem Publikum

 

Entschulung der Schule

Als Ivan Illich Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts mit seiner radikalen Schulkritik für Aufsehen sorgte und bei vielen Vertretern der Pädagogik auf völliges Unverständnis und auf Ablehnung stieß, folgte Hartmut von Hentig einer Einladung von Illich nach Cuernavaca in Mexiko, um am CIDOC, der Denkwerk-statt Illichs, die schulkritischen Thesen zu diskutieren. Hartmut von Hentig nahm die Herausforderung durch die von Seiten Illichs und anderer Schulkritiker an die Schule und die Bildungs-systeme gestellten Fragen an und ließ sie in ein produktives Nachdenken über die Schule der Zukunft einmünden. In zwei Büchern hat Hartmut von Hentig damals seine Auseinandersetzung mit der Entschulungsforderung Illichs niedergeschrieben: „Cuernavaca oder: Alternativen zur Schule?“, erschienen 1971 und zwei Jahre danach: „Die Wiederherstellung der Politik - Cuernavaca revisited“. Der Forderung nach einer „Entschulung der Gesellschaft“ stellt er die Vision einer „Entschulung der Schule“ entgegen. Im Schlusskapitel von „Cuerna-vaca oder Alternativen zur Schule“ schreibt Hartmut von Hentig über Illich: „Er hat keine neuen Lösungen gegeben, er hat die alten Lösungen nicht verbessert – er hat die Aufgabe wiederhergestellt.“ Es ist letztlich diese Aufgabe, das „Neudenken“ von Schule, der sich Hartmut von Hentig mit großer geistiger Kraft in den vielen Jahrzehnten seines Wirkens widmen wird – zunächst beim Aufbau der Laborschule und des Oberstufenkollegs in Bielefeld.

 

Versuchsschulen

Die beiden genannten Schulprojekte sind als Versuchsschulen konzipiert und an die Universität ange-gliedert. In seinen Lebenserinnerungen nehmen diese beiden Versuchsschulen nicht von ungefähr einen breiten Raum ein: sie stellten wohl die größte Herausforderung an den Pädagogen Hartmut von Hentig dar. Als Fundamente des Gelingens der Laborschule, die ihm besonders am Herzen liegt, nennt er: „…dass wir die Gruppen klein gehalten haben; dass wir mit den Kindern höflich umgehen – freundlich mit ihnen sind und sie ernst nehmen, ohne Betulichkeit und ohne Schmus; dass wir niemanden ausschließen…“ (Mein Leben, Bd. 2, S. 365). Und er schreibt weiter: „Im Lauf der Jahre habe ich der Laborschule auch andere Auszeich-nungen erteilt: Eine Schule, an der Unterschiede wahrgenommen und bejaht werden/Eine Schule, an der man selbständig wird, weil nicht alles vorgängig von den Erwachsenen geregelt ist/Eine Schule, an der man lernen darf und nicht dazu gezwungen werden muss/Eine Schule, an der jedem Kind seine ihm gemäße Lernzeit zugestanden wird/Eine Schule als polis… Hätte ich nur eines dieser Etiketten zu wählen, es wäre das letzte.“ (Ebd. S. 366)

Und er wird nicht müde zu betonen, wie wichtig für die Schule als polis die Beachtung der drei „R“ ist: „Sich Regeln geben, die gemeinsames Planen ermöglichen; Reviere bilden, die die Grenzen der Zuständigkeit definieren; Rituale einhalten, die sich bewährt haben und einem ersparen, die Ordnungen immer wieder neu zu erfinden.“ (Ebd. S. 366)

 

Es geht um die Person

Auch nach seiner Emeritierung im Jahr 1988 bleibt seine Stimme in der Bildungsdiskussion unüberhörbar: In zahlreichen Büchern und Aufsätzen stellt er immer wieder von Neuem die Frage nach angemessenen For-men des Lehrens und Lernens, nach einem für die heutige Zeit und ihren Nöten tragfähigen Verständnis von Bildung und nach einer Schule als Lebens- und Erfahrungsraum. Der Schule als „a place for kids to grow up in“, wie von Hentig gern den amerikanischen Kulturkritiker Paul Goodman zitiert, gilt weiter seine ganze Aufmerksamkeit. Eine Schule, in der Kinder und Jugendliche die Erfahrung machen, als Personen wahrge-nommen und gebraucht zu werden, in der das Wissen in den Dienst des Denkens und des Fragens gestellt wird. „Meine Pädagogik soll den jungen Menschen den Verhältnissen gegenüber frei machen – frei auch, sie zu ändern ...“ schreibt Hartmut von Hentig, und an anderer Stelle: „Wenn die Schule die kommende Generation auf das Leben vorbereiten soll, wie es ist, ohne sie dem Leben zu unterwerfen wie es ist, dann muss sie mehr tun, als die und die ausgewählten Gegenstände und Fertigkeiten lehren.“ Und was dieses „ Mehr “ ist oder sein kann, davon handeln eigentliche alle seine Schriften. Und noch eine Konstante zieht sich gleichsam wie ein Leitmotiv durch seine Pädagogik: Immer geht es ihm um die Person, die Person der Lernenden und um die Person der Lehrenden: „Das Bildungssystem muss in der technischen Zivilisation eine andere Leistung vollbringen als bisher: Es muss den Einzelnen gegen die Sachzwänge stärken“ (Rückblick nach vorn. Seelze-Velber 1999, S. 11).

Viele seiner Bücher sind inzwischen so etwas wie pädagogische Klassiker geworden: „Die Menschen stärken, die Sachen klären“ (1985), „Die Schule neu denken“ (1993), „ Bildung “ (1996), „Ach, die Werte“ (1999) „Der technischen Zivilisation gewachsen bleiben“ (2002) und „Wissenschaft – eine Kritik“ (2003), um nur einige zu nennen.

 

Unverzichtbare Erfahrung

2006 veröffentlicht der inzwischen 81-jährige von Hentig ein schmales Büchlein, das noch einmal für Aufsehen sorgt: „Bewährung – Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein“. In diesem pädagogischen Manifest greift er noch einmal den Gedanken der „Entschulung“ auf: Kann die traditionelle Schule der geeignete Lernort für die 13-15jährigen Jugendlichen sein? Mit großer Eindringlichkeit stellt er sich dieser Frage. Sein Vorschlag ist wohldurchdacht und gleichsam eine Bündelung seiner Erfahrungen und Erkennt-nisse als Pädagoge: Um den jungen Menschen Erfahrungen mit praktischen Aufgaben in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft zu ermöglichen, soll die Mittelstufe „entschult“ werden. Er plädiert dafür, in dieser Schulstufe den formalen Schulbesuch zu unterbrechen und den 13-15jährigen Schülerinnen und Schülern Lerngelegenheiten außerhalb der Schule zu bieten, damit sie die Erfahrung machen können, gebraucht und anerkannt zu werden. Wie eine solche Entschulung aussehen könnte, skizziert er mit einem konkreten Beispiel. Wer die früheren Schriften von Hentigs kennt, wird über diesen Vorschlag nicht überrascht sein: alle großen Themen seiner Pädagogik kommen hier gleichsam fokussiert wieder. Letztlich ist dieses Buch eine Fortsetzung seiner Auseinandersetzung mit Ivan Illichs Schulkritik, insbesondere mit der Kritik am „hidden curriculum“: dass die Schule vor allem eines lehre: die Wichtigkeit von Schule.

 

Der Einzelne, die Gesellschaft, die Demokratie

Hartmut von Hentig ist nie nur Pädagoge. Immer versteht er sich auch als engagierten Bürger, der sich um den Zustand der Gesellschaft, die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen in der komplexen technisch-industriellen Zivilisation und die Demokratie sorgt. In all seinen Schriften kommt dies zum Ausdruck. Und er tut das in einer unvergleichlichen Sprache. Beim Lesen seiner Texte kann man ihm gleichsam beim Denken zusehen. „Die Sprache ist mein Erkenntnisinstrument. Erst wenn ich beim Schreiben das Gedachte buch-stäblich vor mich bringe, kann ich dafür einstehen.“ (Fast ein Poet, in: Aufgeräumte Erfahrung, München 1983, S. 269)

Im Jahr 1986 wird Hartmut von Hentig der Sigmund-Freud-Preis für gute wissenschaftliche Prosa zu-erkannt, ein Preis, der ihn „glücklicher macht als die anderen Preise, die ich erhalten habe.“ (Mein Leben, Bd. 2, S. 574)

Wer immer sich mit innerer oder äußerer Schulreform befasst, mit Alternativen in der Schule oder alter-nativen Modellen zur Schule, tut gut daran, sich mit dem Werk Hartmut von Hentigs auseinanderzusetzen. Es ist geprägt von sokratischer Skepsis gegenüber oberflächlichem Denken, von politischem Gespür für die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge und großer Aufmerksamkeit für das, was heutige Kinder und Jugendliche stärkt.

Franz Tutzer ist Direktor der Oberschule für Landwirtschaft in Auer

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