Bedürfen Elternrollen der Professionalisierung?

Elternschaft bietet keinerlei Handlungssicherheiten

 

Elternschaft und die Teilnahme an der Entwicklung der Kinder bergen ungeahnte Möglichkeiten und Chancen für die Weiterentwicklung der Persönlichkeit. Sowohl Kinder als auch Eltern machen im Erziehungsprozess eine Entwicklung durch – verständlicherweise nicht dieselbe. Eltern sollen sich im gemeinsamen Erziehungsprozess mit Kindern als Eltern entwickeln. Auch professionelle Hilfe zu beanspruchen kann dazugehören.

von Kurt Buchinger

Wie andere berufliche Rollen unterliegt die Elternrolle heute einem Prozess der Professionalisierung. Gemeint ist damit nicht die Übernahme und Anwendung von Expertenwissen, sondern vielmehr eine Vertiefung der internen Expertise und Fähigkeit, durch eine unbekannt bleibende Landschaft zu gehen, mit hoher Aufmerksamkeit und der Bereitschaft, sich immer wieder überraschen zu lassen und mit neuen Schritten zu reagieren.

 

Gewaltfreier elterlicher Widerstand

Es gab auch in meinem Leben mehrere Begebenheiten, die mich in meiner Vaterrolle gefordert haben. Der bei Weitem härteste „Arbeitseinsatz" meines Lebens war ein „Sit-in" bei meinem ältesten Sohn, das ich mit professioneller Unterstützung durchzuführen wagte. Ich hatte alle meine beruflichen Termine für etwa 10 Tage abgesagt. Für das Verständnis, das meine Kollegen an der Universität für mich aufbrachten, bin ich heute noch dankbar. Und so begab ich mich eines Morgens zeitig ins Zimmer meines Sohnes, teilte ihm mit, dass er bis auf Weiteres nicht zur Schule müsse; wir beide, er und ich, würden dieses Zimmer erst verlassen, bis wir einen neuen Kontrakt für unser Zusammenleben in der Familie hätten. Er habe nämlich seinen Kontrakt als Sohn einseitig aufgelöst, erwarte aber, dass wir, seine Eltern, unseren Kontrakt weiterhin erfüllen, was zu einer für uns unerträglichen Schieflage geführt habe. Er brauche gar nicht versuchen, das Zimmer zu verlassen. Es wäre gut abgesichert, und wir hätten für diese nicht leichte Aufgabe alle Zeit der Welt. Meine einzige weitere Aktivität war, auf seine Vorschläge zu warten und darauf zu achten, dass mein Sohn das Zimmer bis auf die nötigen Badezimmerbesuche nicht verließ, keine Sach- und Personenbeschädigungen vornahm. Verpflegung wurde uns serviert. So verbrachten wir drei Tage und zwei Nächte, pendelnd zwischen Hochspannung und abendlichem Vorlesen aus dem Gilgamesch-Epos, bis mein Sohn nach Schreibzeug verlangte und wir auf seine Vorschläge hin 20 Punkte eines neuen Kontrakts mit Verpflichtungen auf beiden Seiten gemeinsam erarbeiteten.

Nicht dass wir diese Punkte auch klaglos einhielten, aber wir hatten wieder eine Basis für einen verbindli-chen Kontakt gelegt, und mit einiger Verzögerung kam eine sehr fruchtbare, liebevolle Entwicklung in Gang. Vor dieser Intervention waren meine Frau und ich als Eltern ratlos und verzweifelt, denn wir vermeinten unseren Sohn in mehreren Hinsichten mit einem Bein im Abgrund, was uns von unserem Familienberater bestätigt worden war. Ohne seine auf H. Omer (2002) basierenden Ideen und Vorschläge zu elterlicher Präsenz und gewaltfreiem elterlichen Widerstand wären wir nicht mehr handlungsfähig gewesen.

Was haben wir gelernt?

Worin bestand die Beratung, die uns zu diesem Schritt geführt hatte?

Die Krise, in die wir mit unseren pubertierenden Kindern geraten waren, der daraus entstandene Leidens-druck, das Gefühl der Bedrohung, das im ersten Impuls irrationale Handlungsweisen nahe legte, machten es nötig, die Strukturen unserer Familie zu reflektieren. Die Rollenverteilung innerhalb der Familie, die Verbindlichkeiten, die Strategien der Bewältigung von Problemen, die Normen und Werte, die unser Handeln bisher bestimmten, wurden einer Überprüfung ihrer Brauchbarkeit für die veränderte Familien-situation unterzogen. Dabei lernten wir viel über die Familie – nicht so sehr theoretisch, sondern aus der Sicht des Teilnehmers an diesem besonderen sozialen System.

Natürlich lernten wir etwas über Strukturen und Prozesse in familialen Systemen, aber wir lernten vor allem, dass wir als Teil des Systems eine Steuerungsaufgabe hatten, die es verlangte, uns als Teil mit zu reflektieren; wir lernten, dass wir uns in einem Prozess der gemeinsamen Interaktion befanden, auf dessen Fortsetzbarkeit wir bedacht waren, und über den es keine objektiv richtige Außensicht gab, die uns sagen konnte, was in welchem Fall zu tun wäre. Vor allem lernten wir genau hinsehen, beobachten, um handeln zu können. Die größte Schwierigkeit bestand darin, die Schuldigen-Suche aufzugeben, anzuerkennen und zu würdigen, was ist, und dann erst den Versuch zu unternehmen, es in Richtung unserer Ziele und Werte zu ändern.

Was uns die Beratung vermittelte, war ein differenzierter Blick und eine darauf basierende Handlungs-fähigkeit, um die familiäre Interaktion zum höchsten Nutzen aller fortzusetzen. Wir eigneten uns familien-bezogene soziale Kompetenz an, in welcher der Fundus der wissenschaftlichen Erkenntnisse und des von Profis entwickelten methodischen Handwerkszeugs seinen Niederschlag gefunden hatte.

Wir begannen wahrzunehmen, dass die Familie ein reflexives soziales System ist, kaum mehr abgesichert durch institutionell festgelegte Rollenvorgaben, mit denen mitgeliefert ist, was wahr und was falsch und dementsprechend gesellschaftlich sanktionierbar wäre. Sie ist im Alltag nur mehr durch die entsprechende soziale Kompetenz ihrer Mitglieder abgesichert. Mit anderen Worten, wir unterzogen unsere Sicht der Familie und vor allem unser steuerndes Handeln in ihr einer Professionalisierung, die weit über den Anlassfall hinaus unser Tun veränderte.

Dass wir im konkreten Fall auch eine praktische Handlungsanleitung erhalten hatten, in der ebenfalls das ganze Know-how von hoch spezialisierten Professionellen enthalten war – eine Handlungsanleitung, die ich nur unter Life-Supervision unseres, mit mir über eine Hotline verbundenen Beraters, durchzuhalten imstande war – spricht nicht gegen die erwähnte Professionalisierung. Im Gegenteil, es zeigt, dass in einem weitgehend entinstitutionalisierten Raum (in dem man Fähigkeiten entwickeln muss, um das zu ermögli-chen, was früher institutionell abgesichert war) gelegentlich Dinge hilfreich sein können, auf die auch ein professionalisierter Laie allein nicht so leicht kommen würde. Es unterstreicht also die Notwendigkeit der Professionalisierung.

Warum Professionalisierung?

Nun sind wir nach dem Urteil unserer Umgebung und nach eigener Einschätzung eine halbwegs normale, sozial integrierte Familie mit zwei erfolgreich berufstätigen Eltern, die noch dazu Profis der Beratung sind, vier gemeinsamen und zwei von mir in die Familie mitgebrachten älteren Kindern. Krisenfälle wie der genannte finden sich in unserer Umgebung immer wieder – eben deshalb, weil es heute kaum verbindliche Rollenvorbilder weder für Statuspassagen noch für den familiären Alltag gibt. Der Vater als Familienober-haupt, die Mutter als Hausfrau, kindlicher Gehorsam und Ehrfurcht vor den Eltern als Werte und dergleichen mehr, all das gehört einer emotionell fernen Vergangenheit an. Pubertät ist heute eine lebensgefährliche Unternehmung, weil der Reifungs- und Entwicklungsschub, der alles Gewohnte vorübergehend außer Kraft setzt, durch keine Rollenmuster abgefedert ist, aber die verfügbaren Angebote des Abgrenzungskonflikts gegen kaum greifbare Autoritäten mörderisch sind. Dem können jede Menge anderer familiärer Krisen zur Seite gestellt werden, ausgelöst durch berufliche und andere Identitätswechsel im Lauf eines Lebens oder auch durch die Auffassung von Beziehung und Familie als temporäre Systeme.

Elternschaft ist weder biologisch oder instinktmäßig abgesichert, wie uns tägliche Zeitungsberichte vor Augen führen; sie ist sozial weniger abgesichert denn je, wie die vielen möglichen Formen familiären Zusammenlebens zeigen; Elternschaft ist auch institutionell derart minimal abgesichert, dass man daraus keine Handlungssicherheit ableiten kann.

Krisen sind der Alltag. So sehr sie uns unter Handlungsdruck stellen, sind sie oft nur der Anlass für etwas, das auch ohne sie brauchbar wäre, und was – hätte man es früher erlernt – den Krisenfall vielleicht anders hätte in Erscheinung treten lassen: Den Erwerb familialer sozialer Kompetenz, die Erhöhung der Wahrneh-mungsfähigkeit, das frühe Registrieren eigener Gefühle als wichtige Informationsquellen über das System, seine Veränderungen, Krisen und Gefährdungen, die Entwicklung von Fantasie für ungewöhnliche Hand-lungsalternativen, die Fähigkeit, riskante Entscheidungen zu treffen im Vertrauen darauf, dass es für alles Lösungen gibt. Warum soll man dazu nicht all das nutzen, was an professionellem Wissen und Können mühsam entwickelt wurde? Es ist sicherlich nicht der Besitz von Profis, die heute ihrerseits weniger denn je wissende Experten, als vielmehr Reflexionshilfen für den Erwerb von sozialer Kompetenz ihrer Klientel darstellen.

 

Kurt Buchinger ist

Professor für Supervision und Organisationsberatung an der Universität Kassel und

Verfasser zahlreicher Publikationen

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