Rolle in Transaktion

 

Nach der Transaktionsanalyse können wir aus unterschiedlichen Ich-Anteilen heraus kommunizieren: dem Eltern-Ich, dem Erwachsenen-Ich, dem Kindheits-Ich. Ein Fallbeispiel.

von Bernd Karner

Es war ein wunderschöner Sommertag. Daniela, meine Frau, hatte das Mittagessen zubereitet, Tante Paula war zu Gast. Unsere Kinder saßen neben mir auf der Holzbank unter dem Apfelbaum. Sie vergnügten sich am Krach, den sie verursachten, indem sie mit ihren Schuhen gegen die Holzbank trommelten. Laurent war 3, Simon 6 Jahre alt.

Daniela brachte die Suppe und ermahnte die Kinder, den Lärm zu beenden. Diese trommelten munter weiter. Nun sah mich meine Frau mit jenem Blick an, der mir zu verstehen gab, dass ich nun in meine sanktionierende Vaterrolle schlüpfen müsse.

Die Sanktion

Ich empfand das Gepolter nicht so schlimm. Die Kinder saßen zu meiner Linken, und ich bin seit meiner Geburt an diesem Ohr taub und meine Tante ist schwerhörig. Dennoch folgte ich missmutig der Aufforderung meiner Frau endlich ein Machtwort zu sprechen, das allerdings wenig überzeugend ausfiel. Auch der zweite und dritte Versuch waren erfolglos. Dann wieder dieser Blick! Da fasste ich die zwei Übeltäter beim Krawattl und ihre zarten Köpfchen stießen gegeneinander. Damit hatte ich nun auch wieder nicht gerechnet. Laurent, der jüngere der beiden Buben, weinte bitterlich und suchte reflexartig das Weite. Simon verstummte und sah mich mit geweiteten Augen sehr ernst an. Er war empört!

Der Protest

Die Ruhe (Grabesruhe) war eingekehrt, die Suppe im Teller, die Stimmung im Eimer und auch Laurent mit seinen Tränen wieder auf seinem Platz. Schweigend begannen wir zu essen. Da legte Simon demonstrativ den Löffel zur Seite, und sagte klar und vernehmlich, dass er mein Verhalten so nicht hinnehmen könne, dass man sich so nicht benehme und dass er im Übrigen sehr enttäuscht sei. Ich schluckte erst einmal, denn diese Reaktion hatte ich mir von diesem Knirps nicht erwartet. „ Ja, mein Lieber“ sagte ich, „ ich habe es euch dreimal gesagt und... wer nicht hören will, muss eben fühlen!“

Die Pädagogik

Es folgte langes, betretenes Schweigen. „ Trotzdem“, sagte dann Simon, indem er wieder den Löffel zur Seite legte, „das war böse und falsch!“

Wenn nichts mehr helfe, dachte ich, müsse Pädagogik her. „ Nehmen wir an, du hättest deiner Frau und deinen Kindern ein schönes Essen bereitet und deine Kinder würden sich dann so benehmen: Was hättest du an meiner Stelle gemacht?“

Ich dachte ich hätte mich nun geschickt aus der Affäre gezogen und genoss schon klammheimlich meinen Sieg. Da vernahm ich erneut das Klirren des Löffels...

Erster Rollentausch

„Wäre ich der Vater“, sagte Simon und stand auf, „ ich würde meinen beiden Kindern sagen: So ihr zwei, ihr esst jetzt dort.“ Dabei streckte er seine Arme aus, als nehme er die Kinder an der Hand, und er zeigte mit dem Kopf zum nächsten Apfelbaum, unter dem ein weiterer kleiner Tisch stand.

Ich war sprachlos und musste gestehen: Er hatte gewonnen! Das wäre eine gute und angemessene Lösung gewesen. Aber wie konnte ich ihm erklären, dass mein kritisches Eltern-Ich nicht gegen ihn und seinen Bruder gerichtet war, sondern gegen die Erwartungshaltung einer sanktionierenden Vaterrolle? Es waren ja schließlich ihre Köpfchen, die zusammenstießen!

Zweiter Rollentausch

Laurent, der die ganze Geschichte interessiert verfolgt hatte, äußerte sich in Zwei- bis Drei-Wort-Sätzen und in expressiver Gebärdensprache unmissverständlich dahingehend, dass er Simons Lösung keineswegs teile. Hätte er jetzt in dieser Situation die Vaterrolle inne, so würde er mich, seinen Vater, der jetzt das Kind wäre, so richtig versohlen. Zu Recht, wie ich meinte.

Die Kinder hatten mich erfolgreich erzogen!

Die Analyse

A) Simon nimmt sich selbst und das Gefühl der Empörung über das Verhalten seines Vaters ernst. Er lässt sich nicht rein reaktiv in das natürliche oder angepasste Kindheits-Ich drängen, sondern hält seine Wahrnehmung in der Schwebe, bis er sie schließlich wertend artikuliert : „Das war böse und falsch!“

 

B) Er hat die innere Gewissheit darüber, dass die Reaktion des Vaters stark übertrieben war und dass es Werte gibt, an die sich gefälligst auch der Vater zu halten habe. Der Wert, an dem er festhält, ist jener der Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit von Strafe.

Die Frage „Wie hättest du an meiner Stelle gehandelt?“ , gibt ihm schließlich die Gelegenheit, eine Lösung vorzuschlagen, die diesen Wert der Angemessenheit berücksichtigt.

 

C) Simon gelingt es, trotz seines zarten Alters, sein Erwachsenen-Ich zu aktivieren und seinen Vater vom unreflektierten, extrem kritischen (unbeabsichtigt gewalttätigen) Eltern-Ich auf die Ebene vernünftiger Argumentation zu hieven. Einer Ebene, wo nicht Autorität und Emotion, sondern Fairness und das bessere Argument zählen.

D) Wenn Vernunft die Fähigkeit bezeichnet, verschiedene Perspektiven einnehmen zu können, so hat sich bei Simon der in der klassischen Entwicklungspsychologie beschriebene Übergang von der prä-operationalen zur konkret-operationalen Kognition vollzogen; und damit auch die Fähigkeit, sich seines Erwachsen-Ichs zu bedienen.

Er hat mit seinen 6 Lenzen jene Entwicklungsstufe erreicht, die sich dadurch auszeichnet, sich nicht nur in die Rollen von Anderen hineinversetzen zu können, sondern deren Perspektive (Vaterrolle) auch tatsächlich innerlich kohärent zu rekonstruieren.

 

E) Laurent ist mit seinen 3 Jahren dazu noch nicht in der Lage. Sein Möglichkeitssinn lässt aber einen Perspektivenwechsel durchaus zu. Die Frage „Was würdest du an meiner Stelle machen?“ beantwortet er, indem er den Spieß einfach umdreht, um so am Verhalten seines Vaters süße Rache zu nehmen.

 

Kinder lernen nicht von uns, sondern an uns. Wenn du schreist, lernen sie schreien, nicht das zu unterlassen, was dich zum Schreien bewog. Wenn du lügst, lernen sie lügen. Wenn du schlägst, lernen sie schlagen. Wenn du aber Fehlverhalten im Bewusstsein eigener Unvollständigkeit eingestehst, lernen sie auch das. In diesem Sinne sind Kinder für uns Erwachsene exzellente Lehrmeister.

 

Bernd Karner, Soziologe und Erwachsenenbildner, lebt in Bozen und ist Geschäftsführer von CHIRON - Bildung und Forschung.

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