Keine Mündigkeit mit Pseudo-Freiheiten

 

Autorität und Werte im reformpädagogischen Kontext

Autorität und Werte sind Kernbegriffe der Schule, auch wenn sie nicht explizit formuliert werden. Diese beiden Begriffe haben die Geschichte der Schule wesentlich geprägt. Dazu kommen weitere Begriffe, unter denen ich das Begriffspaar „Freiheit und Verantwortung“ zu den wichtigsten zähle. Erst in dieser Verbindung kommt die Bedeutung von „Autorität und Werte“ zum Tragen.

von Christian Laner

Denken wir an Autorität, erzeugen unsere Gedanken verschiedene Bilder, die unterschiedliche Sichtweisen zu diesem Begriff bieten. Da ist einerseits die äußerst strenge Lehrperson, die keinen Widerspruch duldet, auf der anderen Seite wiederum ein Mensch, der auf Grund seiner ‚Persönlich-keit‘ einen so starken Eindruck in uns hinterlässt, dass wir ihn als Autorität wahrnehmen und auch respektieren. Dieses Respektieren geschieht in beiden Beispielen auf  unterschiedliche Weise und hat enorme Bedeutung für unser Tun. Im ersteren Fall ist es die Angst, im zweiten die Achtung vor dem Menschen. Denken Sie doch bitte mal selbst darüber nach, welchen Menschen sie unter diesen Vorzeichen begegnet sind.

Erich Fromm unterscheidet verschiedene Arten von Autoritäten, die immer mit der Würde des Menschen zusammenhängen. Er verweist darauf, dass sie nicht etwas sind, was man hat, also ‚besitzt‘, sondern immer mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun haben, somit gelebt werden. In der Beziehung ist in diesem Fall immer ein Unterlegenen-Überlegenen-Verhältnis gegeben. Entscheidend ist jedoch, in welcher Form dieses gelebt wird. Fromm spricht von rationalen und hemmenden Autoritätsbeziehungen. Hemmende Autoritätsbeziehungen sind dann gegeben, wenn die Menschen sich dem Gegenüber vollkommen überlegen fühlen. Dazu bedarf es keiner Beispiele, da uns die Geschichte im Laufe der Zeit ausreichend Modelle gezeigt hat, die den destruktiven Charakter zur Genüge zeigen.

Eine rationales Autoritätsverhältnis wird in der Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen gelebt, wobei als  Ziel nicht die Unterwerfung und Machtausübung steht oder stehen sollte, sondern die Begleitung des jungen Menschen, damit er später seinen selbst bestimmten Weg durch das Leben gehen kann. „Je mehr der Schüler lernt, umso schmaler wird die Kluft zwischen ihm und seinem Lehrer. Er wird dem Lehrer immer ähnlicher. Mit anderen Worten, die Autoritätsbeziehung zeigt eine Tendenz, sich aufzulösen.“ (Fromm, 1994, S. 123). Er führt weiter aus, dass die Autoritäts-person als Vorbild respektiert wird, mit der man sich identifizieren möchte, die sogar zum Nach-eifern anregt.

Die Bedeutung der Reformpädagogik

Mit Ellen Key wurde 1900 das Jahrhundert des Kindes eingeläutet. Die Kindheit wurde erstmals als ein eigener Lebensabschnitt betrachtet und das Kind als ein Mensch mit eigenen Ansprüchen, Bedürfnissen und Notwendigkeiten gesehen. Dies hatte auch Auswirkungen auf die Bedeutung der Autorität. Die Rolle der Lehrperson war vorher äußerst dominant und  das Kind hatte sich zu unter-werfen und zu gehorchen – auch wenn es im Recht war. Nun wurde darüber diskutiert, was ein Kind benötigt, um selbstständig und eigenverantwortlich (personale Kompetenzen) sowie sozial (aktive Teilnahme am Leben der Gesellschaft) zu werden. Wie wir sehen, sind dies Begriffe, die auch in unseren Rahmenrichtlinien vorkommen und grundlegend für eine moderne Schule sind. Sie bilden gewissermaßen das Grundgerüst. Die Frage, die sich stellt, ist, wie es gelingen kann, dass junge Menschen Schritt für Schritt zu mündigen Bürgern werden, die eine eigene Meinung vertreten, mit Kritik umgehen können, Toleranz entwickeln (eine immer wichtigere Kompetenz).

Reformpädagogische Sichten

Bereits frühzeitig haben sich verschiedene Reformpädagoginnen und Reformpädagogen damit beschäftigt. Ich möchte darauf hinweisen, dass zur Reformpädagogik nicht nur so bekannte Persönlichkeiten wie Montessori, Petersen, Steiner, Parkhurst oder Freinet zählen; es war und ist eine weltweite Bewegung mit einer großen Anzahl an anderen Vertreterinnen und Vertretern (aktuell ca. 300).

Der Begriff der Autorität zeigt auch in der Reformpädagogik unterschiedliche Akzentuierungen, die von der dominanten Rolle der Lehrperson in der Pädagogik Steiners bis zur basisdemokratischen Erziehung bei Freinet und Dewey reicht. Dies zeigt wiederum, wie stark der Begriff der Autorität mit dem Wertekanon der jeweiligen Person zusammen hängt. Im Kern geht es aber immer wieder um die Frage, welche Werte in welcher Form vermittelt werden sollen. Damit verbunden ist die Frage der Autorität. Freinet und Dewey gingen vom Konzept aus, dass Demokratie gelebt wird und die Schule die Gesellschaft im Kleinen verkörpern muss. Dies erfordert einen anderen Unterricht mit aktiver Beteiligung der Kinder und Jugendlichen an Prozessen der Gestaltung desselben. Es kann jedoch nicht gelingen, wenn dies nur punktuell geschieht. Vielmehr erfordert es ein jahrelanges Training für die Kinder in verschiedenen Varianten, die von den Lehrpersonen mit den Kindern gestaltet werden müssen. Die höchste Form ist dann erreicht, wenn die Lehrperson ein Stimmrecht wie die Kinder hat (s. Praxisbeitrag von Karin Dietl S. 16-17).

Autorität der Lehrperson in einem demokratischen Unterricht

Giovanni di Lorenzo, der Chefredakteur der Zeitschrift ‚Die Zeit‘ hat es in einem Interview im September 2010 auf den Punkt gebracht: „Wir brauchen nicht Menschen, die über Werte reden, sondern solche, die authentisch sind und sie leben.“

Wie bereits oben ausgeführt, werden Lehrpersonen ihre Autorität in diesem Sinne anders leben. Kinder und Jugendlichen zollen dem große Anerkennung, wenn sie einerseits erleben, dass der Erwachsene sie in ihrem Sein wahrnimmt, ernst nimmt und auch mit einbindet, andererseits aber da ist, wenn dies erforderlich ist. Es gibt dann keine Demütigung, sondern gegenseitigen Respekt und Werte, die gelebt werden. Damit einher geht auch der Umgang mit einem wichtigen Begriff des Menschseins, der Freiheit, einem zentralen Thema der Reformpädagogen. Freiheit steht in einem sehr engen Verhältnis zur Verantwortung. Es geht nicht um Pseudo-Freiheiten, sondern die Erfah-rung der Kinder und Jugendlichen, mit der Freiheit auch Verantwortung zu übernehmen. Thomas Mann hat dies folgendermaßen formuliert:  „Der Freiheit anderer Name heißt Verantwortung.“

 
Christian Laner ist Grundschullehrer und Mitarbeiter am Pädagogischen Institut Bozen und widmet sich u. a. der Unterrichtsentwicklung nach reformpädagogischen Konzepten.
 

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