Lebendige Autorität

 

Eine Möglichkeit, der Unhintergehbarkeit alltäglicher Machtwirkungen zu begegnen

„Man kann nicht nicht führen.“ Dieser Satz ist in Anlehnung an den französischen Philosophen und Psychologen Michel Foucault als Antwort darauf zu verstehen, inwiefern Macht stets allen (pädagogischen) Prozessen innewohnt. Was bedeutet das?

von Stefanie Jehle und Monika Jäckle

 

Autorität ist stets an Macht gebunden. Der Begriff Autorität („auctoritas“ lat.) bedeutet soviel wie Würde, Ansehen und Einfluss und beschreibt letztlich die Fähigkeit, Menschen zu führen. Hierzu ist zunächst vom geläufigen Machtverständnis zu unterscheiden.

Macht kann damit einer Person zugesprochen werden, da sie eine gewisse Position inne hat und damit soziale Macht besitzt qua ihres Amtes, Entscheidungen zu treffen. Nach Foucault ist Macht jedoch nicht nur repressiv, sondern in erster Linie auch produktiv zu fassen, durch Wissen „Wahrheiten“ an Anderen zu erzeugen: Macht führt nicht einfach zu Unterdrückungsverhältnissen (im Sinne der Herrschaft), sondern sie stellt eine Strategie dar, wie Bedeutungen jeglicher Art (z. B. Meinungen, Expertenwissen, allgemeine Wissensmuster) auf Kinder und Jugendliche treffen, durch sie hindurchgehen, d. h. ihre Seelen qua Bewertungen und Standards durchdringen und ihre Körper formieren.

Indem wir als pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte Wissen (in Form von Bedeutungen) trans-portieren, zeigt sich die Macht darin, dass sie Wirkungen am Kind/Jugendlichen erzielt – und zwar in Form von „wahrem“ und richtigem Sein. Die Wahrheit der Erziehung ist damit das Resultat aus machtvollen Wissenspolitiken – als institutionalisierte Formen allgemein gültigen Wissens.

In diesem Sinne werden Mädchen und Jungen in der Schule entsprechend der verschiedensten Autoritäts- und Wahrheitsimperative normalisiert. Wir als Lehrkräfte haben als performative Wissensträger Vorstellungen, Leitbilder und Konzepte über „richtige“ Verhaltensweisen im Kopf, die auf das Leben und Lernen von Mädchen und Jungen wirken und ihre Selbstentwürfe mit erschaffen.

Die eingangs formulierte Aussage konkretisiert sich nicht in der Frage „Wie kann ich meinen Einfluss minimieren und Kinder dennoch in die ‚richtige’ Richtung führen?“, sondern sie mündet konsequenterweise in die Frage „Wie wird Einfluss genommen?“

Wie können Kinder und Jugendliche geführt werden, ohne zu verschleiern, dass sie geführt werden? An dieser Stelle steht ein Plädoyer für eine lebendige, dialogische Autorität, die den Kontakt zu sich selbst und zu anderen als Bedingung einer selbstreflexiven und echten Autorität hat.

Die pädagogische Herausforderung besteht nun darin:

  • Herrschaft im Sinne der „Unterdrückung“ und „Hierarchisierung von Beziehungen“ (nicht im Sinne von Führungslosigkeit) zu minimieren ohne dabei die pädagogische Differenz zu verneinen (Erwachsene haben uneinholbare Erfahrungsvorsprünge);
  • die Unmöglichkeit anzuerkennen, als institutioneller und auch als personaler „Bedeutungs-träger“ in sozialen Beziehungen wirkungslos zu sein;
  • die Paradoxien von Person und Rolle auszubalancieren, die sich im Alltag als immerwährende neue Entscheidungen äußern.

Echte, lebendige Autorität ist keine Frage der Position, sondern eine der Persönlichkeit, d. h. der inneren Haltung, der Kompetenz, der Führungsfähigkeit und der Bereitschaft zur Begleitung und zur bedingungslosen Zuwendung.

Autorität braucht Kontakt, Beziehung und „Wachheit“

Autorität ohne Kontakt, Beziehungsfähigkeit und Intersubjektivität läuft Gefahr, die Voraussetzung achtsamer Erziehungsprozesse zu ersticken. Die Fähigkeit, eigene Interessen und Wünsche wahr-zunehmen und auszudrücken, die eigene Handschrift des Ja- und Nein- Sagens zu entwickeln, die Fähigkeit sich anderen gegenüber verständlich zu machen, seine Ziele und Vorgehensweisen zu erklären, subjektive Positionierungen transparent zu machen und zu begründen und vor allem Raum für Aushandlungen der eigenen Identität zu geben, baut auf Kontaktprozessen zu mir selbst, zu anderen, zum Thema und zum Umfeld auf.

Etwas von jemandem fordern oder Grenzen ziehen, bedarf der „awareness“, der wachen Wahr-nehmung von Macht, welche Beziehungsqualität und Eigenmotivation fördert. „In Kontakt sein“ bedarf des Gewahrseins zu sich selbst: Erst indem der Blick nach innen gerichtet wird und indem das, was im Inneren auftaucht, akzeptiert und angenommen wird, kann die Frage der Autorität darüber, wer ich bin und wer ich sein möchte, zugänglich gemacht werden. Damit kommt dem „Ja“ zur eigenen Autorität und Verantwortung ebenso viel Bedeutung zu wie dem Vertrauen der Betei-

ligten. So können bewusst unterschiedliche Führungsqualitäten in die Beziehungsentwicklung eingebracht werden, die in Form von Impulsen als feurig-durchsetzend (Feuer), kreativ-abwechs-lungsreich (Luft), fest-strukturierend (Erde) oder einfühlsam-verbindend (Wasser) zu beschreiben sind (nach Fritz Hendrich: Die vier Energien des Führens).

Autorität braucht Freiheit

Die Rolle des omnipräsenten Steuerers, Kontrolleurs und Beobachters führt unweigerlich in die Sackgasse der Überforderung. Auch aus Schülerperspektive stellt sich hier die Frage nach der „Freiheit wovon“ (von der Schule, dem Lehrer, von Mitschülern etc.) (Fuhr 1991, S. 242). Das widersprüchlich klingende, jedoch strukturgebende Moment, welches zur Führungsaufgabe gehört, ist das der Freiheit. Der Gestaltpädagoge Reinhard Fuhr unterstreicht die Führungsaufgabe damit, „dass der Lernende auf diese Weise heraus-gefordert wird, sich in der Auseinandersetzung mit der Autorität zu emanzipieren und die Unterstützung für Kontakt- und Lernprozesse in sich selbst zu suchen lernt.“ (ebd.) Autorität und ihre Wirkung der (schöpferischen) Macht ist unweigerlich an Freiheit gebunden, da Freiheit auch stets immer eine Wirkung von Macht ist.

Das „Wie“ der pädagogischen Führung entscheidet über den Freiheitsgrad, der den Kindern und Jugendlichen zukommt. Freiheit ist in dem Maße abhängig, inwieweit u. a. dem Lehrer seine Führung bewusst ist und er sie in seiner persönlichen Handschrift integriert hat.

Autorität braucht Selbstreflexion und Authentizität

Bin ich authentisch oder verberge ich mich hinter Autoritäten im Sinne vermeintlicher Rollen-erwartungen? Fungieren Rollen als Schutzschild, als Korsett oder als machtvolle Instanz, unbe-wusste Teile auszuagieren? An dieser Stelle sei auf die Bedeutsamkeit verwiesen, eigene Herr-schaftsansprüche zu befragen und das Eingebundensein in (unhintergehbare) Machtverhältnisse zum Thema zu machen.

Nicht das Sich-Angleichen an gesellschaftliche Normen und Erwartungshaltungen, sondern das Ausbalancieren pädagogischer Antinomien der Lehrerrolle ermöglicht, die Erzieher- bzw. Lehrer-rolle als subjektive „pädagogische Selbstrolle“ (Sandfuchs 2004, S. 262) auszufüllen.

Die Frage, wie ich für mich eine sinnvolle, authentische Autorität entwickeln kann, die andere in ihrer Entwicklung nicht hemmt, sondern Orientierung bietet, ist eine, die nur über ein selbstreflexi-ves Innewerden zu beantworten ist: Seinen Blick nach Innen zu wenden und sich dem bipolaren Spannungsfeld (professionelles, regelorientiertes Wissen und personales Sein) nicht zu entziehen, fördert die Ausbildung einer Toleranz der Gegensätze von Grenzziehung und Freiheit, von Erzie-hungsmacht und Begleiter. Damit kann sich das dichotome Entweder-Oder zu einem dialektischen Sowohl-als-auch und zu einer lebendigen Autorität entwickeln.

Nicht im Automatismus des Außen „wahrer“ Erziehungsgebote verhaften zu bleiben, sei es stra-tegische Ziele zu verfolgen, wie Anerkennungsmotive zu erfüllen oder Erwartungshaltungen ge-recht zu werden, sondern sich auf einen Zustand des „Was ist“ zu besinnen und zu zentrieren und damit rastlose „Verhaltensbewertungen“ einzustellen entlang der Frage, was oder wer mich nun, warum, durch welchen „inneren Schattenbereich“ im Außen in Bewegung bringt.

Dies verlangt, sich seiner selbst und anderen gegenüber verständlich zu machen. „Für Lehrerinnen und Lehrer kann es enttäuschend sein, wenn ihre Hoffnungen auf erkennbare Wirkungen unerfüllt bleiben. Aber es gehört für sie zu einer realistischen Einschätzung ihrer Erziehungsfunktion, die Ursachen der Kränkung zu sehen und sie auszuhalten. Sollte die Versuchung groß sein, sie mit einer radikalen Änderung des Verhaltens zu beantworten, so müssten sich die Betroffenen die Frage nach ihrer Authentizität gefallen lassen.“ (Hierdeis 2006, S. 112)

Autorität braucht Vertrauen und Mut zur Führung

Aufgabe der Führung ist es, Impulse zu geben, die dem Lernen, Wachsen und Gestalten Raum geben. Mit Initiative begeistern, baut nicht auf einer funktionalen Macht der Führung von außen auf. Begeisterung erwecken und helfen, Stärke auszubilden, verlangt nach Vertrauen, nach einer Führung von innen, die sich nur auf einer dialogisch-schöpferischen Ich-Du Basis bewegen kann.

Je besser die Orientierung an Werten, die eine Person verkörpert, umso eher mobilisieren die Kinder und Jugendlichen ihre Kräfte und entfalten Selbstvertrauen und Eigenverantwortung. Um Vertrauen aufzubauen und dieses in Zuverlässigkeit zu halten, bedarf es der Fähigkeit, konflikt-hafte Momente, in denen man nun eben nicht gemocht wird, auszuhalten.

Grenzen setzen, welche auf Achtung und Wertschätzung basieren, Zuverlässigkeit der Maßnahmen bei Regelverletzung sowie Klarheit bei Widerständen sind das Gewebe lebendiger pädagogischer Führungsgestaltung. Mut zur Führung bedeutet auf der Grundlage kommunikativer Sensibilität Initiative zu entwickeln und immer wieder situativ und personal bedingt neue Entscheidungen zu treffen – entsprechend des Wissens, nicht nicht führen zu können.

Literatur

Fuhr, R.: Gestaltpädagogik – eine persönliche und professionelle Herausforderung. In: Burow, O.-A./Kaufmann, H. (Hrsg.): Gestaltpädagogik in Praxis und Diskussion. Berlin 1991, S. 236-244

Hierdeis, H.: Lehrer: Persönlichkeit, Rolle, Erziehungsfunktion. In: Frank, N./Menzel, D./Schloms, C. (Hrsg.): Erziehung fördert Bildung. Donauwörth 2006, S. 97-115

Moestl, B.: Wer Grenzen zieht, kann Wege öffnen. Das Tao der Erziehung.

Sandfuchs, U.: Lehrerberuf – Lehrerrolle. In: Keck R.W./Sandfuchs U./Feige B. (Hrsg.): Wörterbuch Schulpädagogik. Bad Heilbrunn 2004, S. 262 ff.

 

 

Stefanie Jehle und Monika Jäckle

sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl für Schulpädagogik in Augsburg.

 

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